Pro Menschenrechte - contra Vorurteile

Die Zahl der Asylsuchenden in Europa steigt. „Wir können doch nicht die ganze Welt aufnehmen“, hört man oftmals. Richtig ist: davon sind wir Lichtjahre entfernt. Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge kommt nach Europa. Eine Flucht hierher ist teuer und gefährlich; zudem droht sie immer zu scheitern, denn legale Wege nach Europa gibt es für Flüchtlinge nicht. Im Laufe des Jahres 2012 wurden weltweit über sieben Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Im gleichen Zeitraum baten 355.000 Menschen in 38 europäischen Staaten um Asyl – das wären umgerechnet gerade einmal 5 %. In Wölfersheim leben zur Zeit 37 Asylsuchende.
08.10.19 / Gemeinde Wölfersheim

„Gefühlt ist Deutschland Hauptzielland aller Flüchtlinge in Europa.“ Richtig ist: innerhalb Europas liegt Deutschland mit seinen Asylzahlen seit Jahren im Mittelfeld. 2013 baten in Deutschland knapp 110.000 Menschen um Asyl, 2012 waren es 65.000 Asylsuchende.

Es ist vor allem für die Betroffenen eine traurige Tatsache, dass derzeit besonders viele Menschen in Staaten wie Syrien, Afghanistan und andere fliehen müssen, um ihr Leben zu retten. Für Deutschland als Aufnahmeland ist die zuletzt sprunghaft gestiegene Zahl der Asylsuchenden aber kein Grund zur Besorgnis. In der Vergangenheit gab es niedrigere, aber auch weit höhere Asylzahlen. Mit neun Asylanträgen pro 10.000 Einwohner lag Deutschland 2012 auf Platz zehn der EU-Staaten, auch 2013 – so ist nach der statistischen Auswertung zu erwarten – belegte Deutschland keinen Spitzenplatz.

Ahnungslose sind überzeugt: „Die meisten sind nur Wirtschaftsflüchtlinge.“

Richtig ist: die Gründe, die Menschen in die Flucht treiben, wiegen schwer. Sie heißen Krieg, Verfolgung und Existenzgefährdung. Niemand setzt sich leichtfertig nachts in ein marodes Boot, wissend, dass der Tod droht. Niemand setzt alles aufs Spiel, lässt

alles los – Heimat, Besitz, Familienangehörige – und das alles nur in der Hoffnung auf den Bezug von Sozialleistungen.

Wer Asyl sucht, sieht darin oft die letzte Überlebenschance.

Die Asylsuchenden kommen aus Ländern, in denen fortlaufend Menschenrechtsverletzungen, Kampfhandlungen und Anschläge auf der Tagesordnung stehen, wo Anschläge, gezielte Verfolgungen, religiös motivierte Gewalt und Machtkämpfe täglich zivile Opfer fordern. Auch die uns zugeteilten Flüchtlinge haben schwere Schicksale hinter sich. Die meist noch jungen Leute haben in ihrem Leben schon sehr viel Leid erleben müssen und haben es unter den widrigsten Umständen hierher geschafft.

Hektisch eröffnete Notunterkünfte suggerieren: Wir haben nicht genug Platz, die neu ankommenden Flüchtlinge unterzubringen. Richtig ist: mit vernünftiger Planung könnten wir viel mehr Menschen aufnehmen.

Die gestiegenen Flüchtlingszahlen haben den Bedarf an Unterkünften erhöht. Die örtliche Unterbringungsnot ist für viele Kommunen ein Problem. Die Gemeinde Wölfersheim konnte alle ihr zugewiesenen Flüchtlinge bisher in eigenen Wohnhäusern unterbringen und musste nicht, wie andere Nachbarkommunen, teuren Wohnraum von Privat anmieten. Die Wohnungen sind alle einfach und gleich eingerichtet: Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsbad, die vorhandenen Zimmer sind je nach Größe mit 2 oder 3 Betten und dazugehörigem Spintschrank und einem kleinen Tisch mit Stühlen ausgestattet. Deswegen werden auch keine Möbel-, sonstige Sach- oder Kleiderspenden benötigt.

Viele Menschen denken: So viele Flüchtlinge aufzunehmen, können wir uns nicht leisten. Richtig ist: Menschenrechte zu beachten kostet Geld, und das können wir uns leisten. Flüchtlinge zu schützen ist eine humanitäre und völkerrechtliche Verpflichtung, die keiner Kosten-Nutzen-Rechnung unterliegen darf.

Nachdem Millionen von Menschen vor der Verfolgung und Vernichtung im Nationalsozialismus fliehen mussten oder dagegen kämpften, schrieben die Mütter und Väter des deutschen Grundgesetzes dem Schutz Verfolgter eine zentrale Bedeutung zu. Für die Bundesrepublik sind das Asylgrundrecht, die europäische Gesetzgebung und vor allem das Völkerrecht verbindlich. Der Staat profitiert insbesondere vom Zuzug junger, qualifizierter Erwachsener: Ihre Kindheit und Ausbildung haben nämlich andere Staaten bezahlt, in Deutschland bringt ihre Arbeitskraft Steuern, Wachstum und sogar neue Jobs. Je mehr investiert wird, je früher Flüchtlinge Zugang haben zu Deutschkursen, Berufsausbildung, Qualifizierung und anderen Hilfen, desto eher wird die Gesellschaft auch wirtschaftlich gewinnen. Durch ehrenamtliche „Paten“ ist es in Wölfersheim möglich, mehrere Deutschkurse anzubieten. Unsere Flüchtlinge sind mit viel Eifer dabei und haben schon beachtenswerte Fortschritte erzielt. Allen Paten und Helfern, die sich für die Flüchtlinge einsetzen, sei für ihre Arbeit an dieser Stelle herzlich gedankt.

Neonazis behaupten, durch Zuwanderung gehe die deutsche Kultur zu Grunde.

Richtig ist: die angeblich „deutsche“ Kultur und Bevölkerung spiegelt eine Jahrtausende lange Migrationsgeschichte wider.

Migration ist ein Prozess, der die Gesellschaft seit Jahrtausenden nicht nur dauernd verändert, sondern „uns“ auch zu dem gemacht hat, was „wir“ heute sind. Beginnend mit der Menschheitsgeschichte müsste man sagen: eigentlich sind wir alle Afrikaner/innen, denn menschliche Knochenfunde aus Äthiopien und Kenia weisen darauf hin, dass die Menschen einst von dort ausgehend die anderen Erdteile besiedelten. Im 18. und 19. Jahrhundert flohen auch Millionen Deutsche vor religiöser Repression und bitterer Armut nach Russland und vor allem nach Amerika. Mit den „Gastarbeiter/innen“ des 20. Jahrhunderts wurde Deutschland wieder zum Einwanderungsland. Politiker, Schauspieler oder Nachrichtensprecher mit familiärem „Migrationshintergrund“ gehören inzwischen zur Normalität, Döner und Pizza sind schon lange Bestandteile der deutschen Kultur. Die deutsche Bevölkerung war immer schon eine ungeplante Mischung. Irgendwann werden aus Zugewanderten Einheimische. Wenn die ehemals „Fremden“ eine Weile da sind, sind sie nicht mehr fremd – nur fällt das dann niemandem mehr auf.

„Liebe Wölfersheimer, nehmen Sie sich diese Argumente für Menschenrechte und gegen Vorurteile zu Herzen. Nehmen Sie die Punkte als Argumentationshilfe, wenn Ihnen fremdenfeindliche Äußerungen begegnen. Wenn Sie künftig auf Flüchtlinge treffen, denken Sie an deren schwierige Situation nach der Flucht in einem fremden Land und heißen Sie sie herzlich willkommen. Begegnungen helfen enorm, Vorurteile und Berührungsängste abzubauen und das Sicherheitsgefühl beider Seiten zu stärken. Ich freue mich sehr über das große Engagement der ehrenamtlichen Paten und die Arbeit der Kirchengemeinden. Diese Solidarität wünschen wir uns für alle im Interesse unserer neuen Mitbürger.“

Ihr Bürgermeister

Rouven Kötter