"Wir mussten ganz schön zulangen"
Jeden Freitagabend kam er von der Bergbauschule Dillenburg, packte zu
Hause in Wölfersheim seine sieben Sachen aus, schwang sich auf seine NSU
Quickly, meldete sich zur Nachtschicht in einer der Gruben, malochte
bis zum frühen Morgen, nur um am nächsten Abend eine weitere Schicht zu
fahren. Sonntagmittag traf er sich mit Freunden in einem der Wölfersheimer Wirtshäuser, Montagfrüh ging es mit dem Zug zurück nach Dillenburg. „Wir waren eben jung und kräftig und gut drauf. Obwohl: Während der einen oder anderen Vorlesung sind dann schon die Augen zugefallen …“
Helmut Rieß erzählt von einer Zeit, die in Wölfersheim, Trais-Horloff und Utphe längst vergangen ist: Dem 1780 begonnenen Braunkohleabbau in Oberhessen. Schicht im Schacht – genauer: im Tagebau – war dann 1991. Eine Epoche, die die Region jahrhundertelang geprägt hatte, war endgültig passé.
Diese Zeit lebt jetzt wieder auf in einem Buch, das die OVAG herausgegeben hat: „Unter Tage Über Tage – Energie der Vergangenheit“. Auf 146 Seiten kommen Zeitzeugen zu Wort, legen zahlreiche Fotos Zeugnis ab über eine Arbeit, die vielen Menschen heutzutage hierzulande schlicht unbekannt ist. „Wenn ich zurückdenke“, sagt Helmut Rieß, „kommt schon ein wenig Wehmut auf. Dennoch: Es war auch eine Zeit, die man jungen Menschen nicht unbedingt wünschen kann.“
Warum die OVAG einen solchen Band herausgegeben hat? „Einerseits produzierte das ehemalige Braunkohlekraftwerk Wölfersheim vor gut hundert Jahren die erste nennenswerte Menge elektrischen Stroms für die Provinz Oberhessen, für dessen Verteilung wiederum das Überlandwerk, der Vorgänger der OVAG, zuständig war“, begründen die Vorstände Rainer Schwarz und Rolf Gnadl. „Zum anderen ist es ein Ausdruck unserer Verbundenheit mit den Menschen in Oberhessen, mit seiner Geschichte.“
Freude auch bei Wölfersheims Bürgermeister Rouven Kötter, dass sich die OVAG dieses Themas angenommen hat. „Immerhin hat der Bergbau seine Spuren in der ganzen Wetterau hinterlassen. Von dem ehemaligen Braunkohlerevier zeugen heute noch die vielen Seen. Der Bergbau ist ein wichtiger Teil unserer Geschichte, und dank dem Verein zur Pflege der Bergbau und Kraftwerkstradition werden die Erinnerungen daran gewahrt. Ich möchte allen Beteiligten für das Buch danken und bin mir sicher, dass es auf reges Interesse stoßen wird.“
Fotos von Weihnachten unter Tage, Karikaturen eines „Kumpels“, die Lohnentwicklung 1914 bis 1920 im Zuge der Inflation, Auszüge aus dem Kriegstagebuch 1944, die Bergmannswohnungen, die im Laufe der Zeit entstanden und immer wieder die Erinnerungen der Kumpel. „So standen da nach der vollendeten Schicht 50 Männer nackend unter der Dusche. Da wir ziemlich prüde erzogen wurden, war das sehr unangenehm für mich – allein den Vater nackt zu sehen“, schmunzelt etwa Helmut Rieß. Oder Rudolf Kammer: „Trotz der Härte der Arbeit gab es im Tiefbau ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, einen Berufsstolz, den ich sonst nirgendwo gelernt habe. Wir mussten jedenfalls ganz schön zulangen.“
Sinnbildlich für den Niedergang des Kohleabbaus zwei Fotos aus dem Jahr 1971. Der Schornstein des Schwelwerks neigt sich zur Seite und fällt in Schwaden aus Steinen und Staub zu Boden. Eine Sprengung, die bereits seinerzeit viele das Ende ahnen ließ …
„Unter Tage Über Tage“, 146 Seiten, 160 Abbildungen, gebunden, 12 Euro, ISBN 978-3-9812122-6-6
Erhältlich bei der Gemeindeverwaltung Wölfersheim, im Energiemuseum, im Schuhhaus Leschhorn Leonhard und bei der OVAG unter 06031 82 1113.